„When you stay home, and meet no people…“

Die Herrentoilette strahlte den eigentümlichen Charme einer heruntergekommenen Autobahnraststätte aus und das kalte Neonlicht der Deckenbeleuchtung schmeichelte dem Anblick keineswegs. Der rauhe Steinboden war stellenweise aufgeplatzt und das Unkraut bahnte sich seinen Weg durch die Ritzen. Das Fliesenmuster an den Wänden kämpfte mit den Unregelmäßigkeiten der Wände, die ein leidlich begabter Handwerker nachträglich an das Hauptgebäude angefügt hatte.

„Are you forgetting, your vital desires…“

Auch wenn es schon eine gut Stunde hersein mochte, dass die Stimme von Daniel August aus den Lautsprechern schallte, ging David dieses Lied nicht aus dem Kopf. Er lies die schwere Milchglastür hinter sich zufallen und wankte rhytmisch auf die Waschbecken zu. Die Kühle des Raums tat ihm gut. Das große Lagerfeuer und das ein oder andere Importbier hatten seine Wangen zum Glühen gebracht.

„When you don’t move along with people…“

Alle Wasserkräne waren voll aufgedreht, Wasser schwappte an den Seiten der Waschbecken herunter und versank dort im Boden. Der Kühlschrank des Camps hatte seine beste Zeit schon hinter sich gehabt, aber davon liessen sich die jungen Leute nicht mehr aufhalten. David hielt erst seine Hände in das kalte Nass, dann atmete er tief ein und tauchte mit seinem Kopf unter. Das hohe Zischen des Wasserstrahls verwandelte sich in ein dumpfes Rauschen. Drei, vielleicht vier Sekunden waren genug, bis David wieder hochfuhr.

Der junge Mann lugte um die Ecke. Beide Kabinen standen offen, auch an den Urinalen war niemand zu sehen. Die Überfahrt hatte einige seiner Mitschüler doch mehr geschlaucht, als sie zugeben wollten. Robert und Steve waren bereits mit Schlafsäcken in der Hand in ihren Hütten verschwunden. Und wenn Patrick weiter seine Gruselgeschichten mit musikalischer Begleitung zum Besten gab, würde er bald das gleiche tun.

David fischte eine Flasche aus dem Becken. Mit dem Daumen löste er den Verschluss und wandte sich wieder dem Ausgang zu.

„People, people, Desire…“

Ein dumpfer Knall erschütterte den Raum. Das dicke Milchglas in der Tür sprang. David stolperte zwei Schritte zurück und die Bierflasche rutschte ihm aus den Fingern und zerschellte auf dem Boden. Eine schaumige Lache bildete sich und verschwand innerhalb von Sekunden in den Ritzen des Steinbodens.

Die dumpfe Betäubung des Alkohols, die kein kaltes Wasser dauerhaft verdrängen konnte, war plötzlich verschwunden. Vorsichtig näherte sich David dem Ausgang, er spürte sein Herz schneller schlagen. Durch das gesprungene Glas konnte man nichts von der anderen Seite erkennen. Er schüttelte den Kopf. Warscheinlich ein kleines Erdbeben oder etwas in der Richtung.

Er drückte die Tür auf, die wiederwillig nachgab. Stille empfing ihn.

„Hallo? Alles in Ordnung?“

„Hier drüben!“

Michelle versuchte, sich durch das unregelmässige Loch in der Tür der Damentoilette zu zwängen. Erst hatte sie versucht, die Tür mit Gewalt zu öffnen, hatte sich schliesslich mit voller Wucht dagegengeworfen, aber sie gab nicht nach. Gab es nicht eine Vorschrift, dass solche Scheiben aus Sicherheitsglas sein müssten? Egal, alles besser als dortdrin festzusiten.

Sie versuchte die Gestalt zu erkennen, die auf sie zulief. Mittelgross, kurzes blondes Haar, machte einen wenig athletischen Eindruck. David.

„Fuck!“

Es war nur noch ein kleines Stück. Irgendwas verhedderte sich im Glas, Michelle zog sich mit aller Kraft nach vorne bis das Hindernis nachgab und sie unsanft auf den Steinboden rutschte. Ein Hustenanfall übermannte sie und drückte ihr die Lungen zusammen. Sie japste nach Luft.

„Michelle, hey, Mich! Verdammt, sag was!“

So schnell wie er gekommen war, war er auch schon wieder vorbei. Michelle spürte, wie sie durchgeschüttelt wurde. Sie öffnete die Augen und sah oben. David hatte sich auf den Boden gekniet und schaute sie mit besorgtem Blick an.

„Ist… ist schon wieder okay. Ich sagte es ist okay, nimm die Finger weg.“

Mühsam richtete sie sich auf und klopfte den Staub aus ihrer ausgewaschenen Jeans. Dann tastete sie ihre Taschen an und zog aus der rechten ein angebrochenes Päckchen heraus.

David löste den Blick nicht von ihr, als sie sich eine Zigarette ansteckte. Verdammt, sie rauchte seit sie zwölf war, er sollte sich langsam an den Anblick gewöhnt haben.

„Was?“

Er führte eine Hand ins Gesicht und deutete eine Bewegung an. Michelle zögerte kurz und tat es ihm gleich. Es fühlte sich feucht an.

„Fuck!“

Ein hellroter Striemen lief über ihre Hand. Nicht gut. Gar nicht gut.

„Hier, Mich.“

Sie löste ihren Blick von dem frischen Blut. David hielt ihr ein Taschentuch entgegen.

„D… Danke.“

Sie riss zwei Stücke vom Papier ab und formte spitz zulaufende Kegel daraus. Die behelfsmäßige Tamponage stoppte das Rinnsal. Der Geschmack von Kupfer breitete sich auf ihrer Zunge aus.

„Ist wirklich alles okay? Möchtest du vielleicht…“

David deutete mit der Hand auf den Eingang der Herrentoilette. Michelle winkte hastig ab.

„Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Kannst du nicht hören? Kümmer dich um deinen eigenen Kram.“

Sie wischte sich die Hände an den Resten des Taschentuchs ab und warf es auf den Boden. Schnellen Schrittes stapfte sie an ihm vorbei, vorbei am Haupthaus und den schmalen Pfad zwischen den Büschen zur Feuerstelle hinunter.

David schaute einen Moment in die Dunkelheit. Dann ging er ihr hinterher.

Fortsetzung folgt…