Nicole spürte den Steinboden unter sich. Die Luft, die sie umgab, war feucht und warm, es kostete sie Mühe, die Augen zu öffnen. Alles wirkte unscharf und unwirklich, obwohl sie das Gewicht ihrer Brille im Gesicht spüren spüren konnte. Über ihr kauerte eine Gestalt, doch sie konnte nicht erkennen, wer es war.

Hypnagogische Halluzination. Nicole hatte keine Angst, sowas passierte ihr vier, fünfmal jedes Jahr, schon seit sie ein kleines Kind war. Keine Dämonen aus dem Wandschrank, keine Ausserirdischen, die einen entführen wollten. Nur ein grausamer Streich des Körpers, der nicht auf die Reihe kriegte, wo die Realität endete und der Traum anfing. Wenn sie es nur schaffen würde, einen Finger oder den grossen Zeh zu bewegen, es würde in einer Sekunde vorbei sein.

Von irgendwoher ertönte ein dumpfer Ruf, und die Gestalt verschwand aus ihrem Blickfeld. Eine kleine Ewigkeit verging, dann spürte Nicole wieder etwas Kraft in den Gelenken. Sie hiefte ihren Körper auf die Knie, er schien unendlich schwer zu sein. Auf allen vieren schleppte sie sich tastend vorwärts. Das war anders als sonst – sie sah nach wie vor kaum mehr als Umrisse und Farben. Braun, grün, weiss, das vor ihr, war das vielleicht ein Waschbecken? Nicole nahm all ihre Kraft zusammen, und versuchte sich am Beckenrand hochzuziehen.

So musste es gewesen sein – sie hatte zuviel getrunken und war dann auf der Damentoilette zusammengeklappt.

Nur dass Nicole nicht trank. Sie hatte gesehen, was der Alkohol ihrem Großvater angetan hatte. Außerdem achtete sie darauf, sich nirgends auszuruhen, wo sie sich nicht sicher fühlte. Warscheinlich wäre sie auch auf diesen Trip nicht mitgekommen, hätten sie ihre Freunde nicht in das Kommittee gewählt.

Die Halterung ächzte. Das Mädchen war nicht besonders schwer für ihre Grösse, aber zusammen mit dem Gewicht der Jahre, die vergangen waren, seit ein fachkundiger Klempner diesen Raum betreten hatte, reichte es um die Konstruktion aus der Wand zu reissen. Nicole fiel rückwärts zu Boden, und ein Becken voller Wasser und Flaschen mit ihr.

Der Aufprall schmerzte weniger als die eiskalte Flut, die über sie hereinbrach. Sie rutschte auf dem Hosenboden nach hinten, bis sie mit dem Rücken die gegeüberliegende Wand erreicht hatte, und hob die Arme, um das Fontäne abzuwehren, die der verbogene Hahn in den Raum schoss.

Es war so einfach gewesen – Nicole riss die Augen auf und schob die Scherben von ihrem durchnässten Kleid. Das Wasser hatte sie aus ihrem Dämmerzustand gerissen, sie hatte wieder Kraft in den Gelenken und bis auf ein paar Spritzer auf ihrer Brille konnte sie ihre Umgebung wieder klar erkennen. Sie befand sich tatsächlich auf der Damentoilette, wie hatte sie hier nur einschlafen können? Ihr Blick wanderte über die übrigen Waschbecken zu den Kabinen. Sie kratzte sich am Kopf. Ihr Missgeschick würde nicht sonderlich auffallen.

Die Spiegel waren gesprungen, an einigen Stellen waren in den Wandfliesen kreisförmige Löcher zu sehen, als hätte jemand mit einem schweren Hammer dagegengehauen. Der Putz rieselte herab. Nicole stand auf und lief zu den Kabinen herüber. Wo sie schonmal hier war, konnte sie sich genau so gut die Schäden ansehen. Ihre Gedanken drehten sich mehr um die hinterlegte Kaution, als darum, wer für das Chaos verantwortlich war.

Im hinteren Bereich war die Notbeleuchtung ausgefallen, oder besser gesagt, die Überreste der Lampen hingen lose herab, und es verwunderte sie nicht, dass sie kein Licht mehr gaben. Die Türen links und rechts von ihr waren nur angelehnt. Niemand da. Sie gab beiden einen leichten Stoss, niemand zu sehen. Nicole klopfte vorsichtig an die mittlere Tür und lauschte nach einer Antwort. Nichts. Nach einigen Sekunden prüfte sie nochmal den Verschluss der Tür. Der rote Ring zeigte eindeutig an, dass die Kabine besetzt war. Sie klopfte noch einmal, diesmal lauter. Wieder nichts.

Die meisten, die sie nur flüchtig kannten, würden sagen, Nicole sei ein jemand, den nichts aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Einige glaubten sogar, es sei ihr gleichgültig, was um sie herum passierte.

„Aufwachen, verdammt!“

Sie trat mit ihren flachen Schuhe gegen das Sperrholz. Die Tür rutschte aus der Halterung, mit einem leisen Fluchen sprang Nicole sprang zur Seite und entkam um Haaresbreite einem weiteren blauen Fleck von der Einrichtung der Damentoilette. Die Tür krachte auf den Steinboden, für einen Augenblick hallte das Poltern in dem Raum wieder. Dann kehrte die Stille zurück.
Es dauerte einen Moment, bis ihr Herz wieder normal schlug, dann wagte sie einen Blick in die mittlere Kabine. Eigentlich wollte sie wegen des Schadens nicht die Party sprengen, der verkaterte Morgen schien ihr irgendwie passender für einen Krisenrat, der Anblick, der sich ihr bot, rief jedoch zu sofortigen Maßnamen.

„Was zum…“

Die hintere Wand der Kabine war durchbrochen worden. Nicht dass Nicole nach draussen sehen konnte, die Überreste der Toilette… jemand hatte sie mit einer unglaublichen Kraft in die Loch in der Wand gedrückt, um es zu verschliessen. Nicole zog an einem Rohr, das hervorragte. Nutzlos, hier ging garnichts. Sie schaute sich weiter in der Kabine um. Die Türangeln sahen beschädigt auf, warscheinlich war die Tür nur herausgehoben worden. Auf dem Boden lagen Steinbrocken und Stücke vom Putz herum… Sie beschloss, sofort Mr. Crabtree Bescheid zu geben. Wer auch immer hierfür verantwortlich war, kam von aussen, und war jetzt auf dem Gelände.

Auf ihrem Weg zum Ausgang hielt Nicole vor den Waschbecken inne. Der kalte Strom war inzwischen versiegt. Wenn Elektrizität aus dem Generator kam, war das Camp warscheinlich auch nicht an die Versorgungsleitungen von Silent Hill angeschlossen, und die Newshire Wasserspiele auf Tournee hatten im Laufe des Abends den Tank geleert.

Nicole blinzelte. Die junge Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war blass so blass wie das Keramikbecken, auf das sie sich aufstützte. Auch wenn sie sich nicht gerne so sah, das war es nicht, was sie stutzen liess. In der Reflektion konnte einen langen, breiten Strich an der Wand hinter ihr sich erkennen. Nicole fuhr herum… und schrie.

Jemand hatte etwas an die Wand geschrieben. Geschrieben in zwei Meter hohen Buchstaben. Geschrieben mit einer rotbraunen Flüssigkeit, die nach Kupfer stank. Nahe dem Boden war die Schrift war verwischt, wo sie nach ihrem Sturz gegen die Fliesen gerutscht war.

thx

Der Raum begann sich, um sie zu drehen. Raus hier, nur raus, raus, raus, raus, RAUS!

Nicole stiess sich ab und rannte. Die schwere Milchglastür fiel hinter ihr zu und der Raum versank in Dunkelheit.

Fortsetzung folgt …